Erich Mathes
Von Bruno Kreus, Aachen
Erich Mathes wurde am 11. April des Jahres 1926 in Brand im Elternhaus Triererstraße geboren. Er ist der jüngste Sohn der Eheleute Tina, geborene Daniels, und Josef Mathes, ein Nachkömmling, von der Mutter Tina besonders umhegt und geliebt. Tina und Josef Mathes hatten in Drove im Kreis Düren geheiratet.
In der Pogromnacht am 9./10. November 1938 wurde durch die Zerschlagung der elterlichen Bäckerei die Erwerbsgrundlage der Familie genommen. Erich ist zu diesem Zeitpunkt zwölf Jahre alt. Auf einem Foto vom März 1939 kurz vor der Flucht von Bruder, Schwester und Schwager nach Belgien ist die Familie vereint abgebildet.
Erich zeigt sich als etwas schüchterner Junge, bestrebt nicht aufzufallen und wahrscheinlich auch schon vor 1938 von den gleichaltrigen Jungen gemieden, die damals dem „Jungvolk“ und der „Hitlerjugend“ angehörten. Er besuchte zunächst die Brander Volksschule, musste diese jedoch im Jahr 1938 verlassen, da Juden keine öffentlichen Schulen mehr besuchen durften. Danach ging er auf die jüdische Volksschule in Aachen.
In den Schulferien und auch nach der Schulentlassung arbeitete Erich zunächst bei dem Bauern Ortmanns “auf der Ell“. Dies war nur eine Übergangslösung, denn bevor Alex Mathes, sein älterer Bruder, nach Belgien flüchtete, hatte dieser mit dem Auto-Elektriker Martin Prümmer auf der Ell, mit dem Alex freundschaftlich verbunden war, verabredet, dass sein Bruder Erich in der dortigen Werkstatt arbeiten könne. Die Familie Prümmer waren Kunden bei der Bäckerei Mathes, andererseits ließen diese dort auch Auto und Motorrad warten und reparieren. Wie wir aus nachfolgend in Auszügen zitierten Briefen von Tina Mathes erfahren, konnte Erich dort nicht lange bleiben, da sich die nationalsozialistische Kundschaft empörte, dass Martin Prümmer einen jüdischen Jungen beschäftige, und Erich stand nach einigen Tagen wieder auf der Straße.
Auf Vorsprache von Gemeindesekretär Leo Hanbücken kam Erich dann zum Bauern Johann Mennicken im Freunderheideweg am Brander Wald, dem sogenannten Erbhof, als landwirtschaftlicher Helfer. Doch nach einigen Wochen, als der Ortsbauernführer von Hoegen dort einen Besuch machte und Erich dort mit am Tisch sitzen sah, eilte er zur Gemeindeverwaltung und beschwerte sich, dass ein jüdischer „Lümmel“ bei einer arischen deutschen Bauernfamilie arbeite und sogar bei den Mahlzeiten mit am Tisch sitze. Und Erich war wieder ohne Beschäftigung, wo er sich doch so gerne durch seine Arbeit beweisen wollte.
Aller Wahrscheinlichkeit nach wieder durch Vermittlung von Leo Hanbücken konnte er dann bei einem Bauunternehmer in Walheim als Hilfsarbeiter auf dem Bau arbeiten. Hier hielt der Meister, ein überzeugter Katholik und Bruder des Unternehmers, die schützende Hand über Erich. Die Bauhandwerker mochten ihn, und die Arbeit machte ihm Freude, wenn auch die schwere körperliche Arbeit zunächst ungewohnt war. Die tägliche Fahrt mit dem Fahrrad bei Wind und Wetter, Regen und Schnee war nicht einfach für den schmächtigen Jungen. Als die Familie von Brand nach Haaren ins Internierungslager Hergelsmühle verbracht wurde, hielt er an seiner Arbeitsstelle fest, weil er sich dort aufgehoben und gleichwertig behandelt fühlte. Und von Haaren nach Kornelimünster und Walheim hatte sich der Weg zur Arbeit mit dem Fahrrad mehr als verdoppelt.
Schlimmer noch wurden die Erfahrungen am 15. Juni 1942, dem Tag der Deportation der Familie Mathes von Haaren in das Generalgouvernement, nach Polen.
Was erinnert heute noch an Erich Mathes?
Da ist zunächst die Geburtsurkunde der Gemeinde Brand mit dem Randvermerk über die zusätzliche Vornamensgebung „Israel“ und derer späteren Löschung vom 24. März 1947, dann die Eintragung des rechtskräftigen Beschlusses des Amtsgerichtes Aachen vom 13. März 1950, mit der Erich „für tot erklärt“ und als Zeitpunkt des Todes der 8. Mai 1945 festgestellt wird.
Irgendwo aufbewahrt und jahrelang in einer Kiste mit weiteren Büchern auf einem Speicher deponiert, dann bei einer Aufräumaktion wiederentdeckt, wurde mir im Jahr 1994 von einem Bekannten aus der Pfadfinderzeit das Buch „Das jüdische ABC, ein Führer durch das jüdische Wissen“, herausgegeben 1935, übergeben, das Erich zu seiner Bar-Mizwa, der Feier seiner Aufnahme in die jüdische Gemeinde mit allen Verpflichtungen, mit einer Widmung geschenkt worden war. Ich konnte es an die Nichte von Erich Mathes, Arlene Mathes-Scharf, der jüngsten Tochter von Alex Mathes, weitergeben. Frau Mathes-Scharf hat eine große Familie und ist sehr religiös, und die Familie legt großen Wert auf die jüdischen Traditionen. Sie lebt in der Nähe von Boston, USA.
Weitere Lebenszeichen von Erich finden sich in den Briefen, die seine Mutter an den Sohn Alex über eine Adresse in der Schweiz ins Exil nach Frankreich schickte.
Diese Briefe sind sehr aufschlussreich, auch wenn Erich oft nur mit einem Satz oder wenigen Sätzen erwähnt wird. Zudem habe ich vor Jahren Gesprächsnotizen von Nachbarn oder Kunden über Erich gesammelt, die in das Bild, welches seine Mutter von ihm verfasste, genau passten.
Im Folgenden finden Sie die Auszüge aus den Briefen der Mutter und Informationen aus weiteren Quellen.
Brand, 9. August 1940, Brief von Mutter an Alex Mathes
„Unser Erich ist jetzt in den Ferien bei Ortmanns auf der Ell im Feld am arbeiten; er bekommt zwar fast nichts dafür, aber er ist von der Straße und lernt was, es schadet ihm nichts. Auch hat er schon mal bei unserem Nachbarn im Garten gearbeitet, da hat er mehr bekommen; er ist ganz von der Sonne verbrannt. Aber in 14 Tagen fängt die Schule wieder an, […]“
Brand, 6. September 1940, Brief von Mutter an Alex Mathes
„Erich hat noch immer Ferien, sicher schon 2 Monate. Er ist ja bei Ortmann am arbeiten, aber ich glaube nicht, dass er da bleibt, weil die nicht bezahlen oder sehr schlecht, er verschleißt doch immer und ist sehr groß; das heißt, das arbeiten ist ja sehr gut für ihn, bei fremden Leuten ist er viel anständiger und ordentlicher wie bei uns.“
Brand, 24. September 1940, Brief von Mutter an Alex Mathes
„Erich ist noch immer am arbeiten und ist er ein richtiger Bauer geworden. Der l[iebe] Vater war beim Lehrer und hat ihn für ein paar Wochen frei gefragt. Er tat es ja nicht gerne, aber die (frische) Luft ist ihm noch besser wie die Schule; erstens lernt er arbeiten und tut die Luft ihm sehr gut, er sieht besser aus und denke mal, das Gemüse schmeckt ihm gut, was er früher doch gar nicht gegessen hat. Gestern haben Ortmanns sogar gesagt, er solle da bleiben bis die Rüben aus wären, d.h. wenn er so lange frei bekommt. Am liebsten arbeitet er, wenn das Pferd dabei ist, er war ja immer ein großer Tierfreund, das weißt du ja noch wie wir Katze und Hund hatten.“
Brand, 10. Oktober 1940, Brief von Mutter an Alex Mathes
„Erich spielt noch immer Bauer und hat er heute zum ersten mal auf einem Pferd gesessen; überhaupt das Pferd hat es ihm angetan, da ist er ganz verrückt drauf.
Erich ist schon schlafen, er läßt grüßen und küssen. Erich hat heute Nachmittag sage und schreibe 10 Schnitten gegessen und war noch nicht satt; nur müßte er auch Gemüse essen, obschon er jetzt mehr Gemüse ißt wie früher.“
Brand, 16. Oktober 1940 und 21. Oktober 1940, Brief von Mutter an Alex Mathes
„Erich geht jetzt wieder zur Schule und hat er seine Arbeit niedergelegt, d.h. wenn er will, kann er wieder anfangen, aber er mußte zur Schule; er müßte nur was mehr bekommen, die müßten nur mal sehen, wie viel Dreck er nach Hause gebracht hat; d.h. an den Schuhen und schimpfte der Vater jedes mal.“
„Auch ich sende dir die herz. Grüße und Küsse dein dich l.[iebender] Bruder Erich“
Brand, 31. Oktober 1940, Brief von Mutter an Alex Mathes
„Unser Erich geht wieder zur Schule und muß er jetzt wieder tüchtig lernen, die großen Kinder gehen wieder zur Promenadenstraße, die kleinen Kinder auf den Bergdrisch zur Schule.“ (Anm. d. Verfassers: die jüdischen Schulen)
Brand, 30. Januar 1941, Brief von Mutter an Albert Roer
„Auch dass unser Erich sehr wahrscheinlich am Montag (3.2.41) an zu arbeiten fängt und zwar beim Prümmer, den er sehr gut kennt, denn der hat nämlich immer unser Auto gemacht, der betreffende Meister ist Lichtmonteur und hat eine Garage, wo jetzt Autos repariert werden. In Aachen haben sie ihn daraufhin sofort aus der Schule entlassen und geht er morgen zuletzt. Mal sehen, ob er sich nun schickt. Er muß sich was wert sein, schaden kann es ihm nicht.“
Brand, 9. Februar 1941, Brief von Mutter an Alex Mathes über Frau Lina Gordon
„Erich ist nicht am arbeiten, er geht zur Schule.“ [Mutter]
„Herzl. Grüße u. Küsse Erich“
Lager Gurs, Basses Pyreneés, 11. Januar 1941, Rote-Kreuz-Brief (Formblatt) von Alex Mathes an die Eltern, mit Rückantwort der Mutter aus Brand vom 25. März 1941
Brand, 21. April 1941, Brief von Mutter an Alex Mathes über Frau Kaufmann
„Erich arbeitet nicht mehr beim Prümmer, sondern er ist bei einem Baugeschäft, und arbeitet augenblicklich in C[orneli]-münster. Die Arbeit ist ziemlich stramm für ihn, und schadet ihm doch nichts, wenn er es aushält. Er ist sehr groß aber schmal, doch kann er viel besser essen wie früher; er ist ja auch noch jung aber doch gesund; was ja immer die Hauptsache ist. Ob nun die Arbeit von Dauer ist, wissen wir nicht, auf alle Fälle sind wir sehr froh, dass er Beschäftigung hat.“
Brand, 18. Mai 1941, Brief von Mutter an Alex Mathes über Frau Kaufmann
„Erich ist noch immer in C´[orneli]münster bei dem Bauunternehmer; er lernt jetzt arbeiten und macht sich sehr dreckig und verschleißt viel. Aber die Hauptsache ist nun gesund bleiben; und wenn er nur aushält. Erich sieht Frau André oft in C´münster und bestellt die Grüße.“
Tagebuch Gemeindesekretär Leo Hanbücken, Eintrag vom 19. Mai 1941
„Der Jude Israel Mathes [sein richtiger Vorname war Joseph] war bei mir und wünschte sein Geld für eine Zimmereinrichtung, die er dem Bauer M.[ennicken] bereits im März d.J. verkauft hat. Der Bürgermeister hat M. angewiesen, an den Juden nicht zu zahlen, sondern seine Anweisung hier abzuwarten.“
Brand, 16. Juni 1941, Brief von Mutter an Alex Mathes über Familie Norbert Kaufmann
„Erich ist noch immer in C´münster bei derselben Firma und ist jetzt fast 3 Monate da. Hoffentlich schickt er sich weiter. Nächste Woche sollen sie Richtfest feiern; dann ist das Haus bald fertig und kommt uns das ganz lächerlich vor das Erich mitmachen soll; wo er doch noch nie was getrunken hat. Auch raucht er noch nicht, wir wollen es auch nicht haben, dafür nascht er um so lieber und sorgen wir immer, dass er was Süßes hat.“
Brand, 14. Juli 1941, Brief von Mutter an Alex Mathes über Familie Norbert Kaufmann
„Erich ist jetzt in Walheim am arbeiten, aber doch bei demselben Unternehmer. Er ist ganz braun von der Sonne verbrannt, denn die letzten Wochen war es hier sehr heiß. Gestern hat es geregnet und ist es heute etwas abgekühlt. Erich kann besser Hitze ertragen wie Kälte. Er ist den ganzen Tag an der Tür [d.h.: er arbeitet draußen] und ist auch schon viel stärker geworden. Er ist schon bald 5 Monate dort; und war ihm das Richtfest nicht gut bekommen, denn er hatte des Guten zuviel genossen, wo er so etwas nie gewohnt war; er hatte getrunken und geraucht und war froh wie er wieder hier war, aber andern Tags ist er doch mit schwerem Kopf arbeiten gegangen; Doch er will es nicht mehr mitmachen.“
Tagebuch Gemeindesekretär Leo Hanbücken, Eintrag vom 25. Juli 1941
„Die Juden [Heumann und Mathes] wurden aus ihren Wohnungen geholt und in Haaren in Notquartieren untergebracht. Jede jüdische Familie hat nur ein Barackenzimmer. Zigeunerhaft mutet die Art der Unterbringung an. Dementsprechend spielen sich aufregende Szenen bei der Herausnahme der Juden ab.“
Sosua, R.D. 3. August 1941, Brief von Vetter Alex Roer an Alex Mathes, Camp des Milles
„Dein Bruder Erich geht arbeiten und scheint er groß und stark geworden zu sein.“
Hergelsmühle, 1. September 1941, Brief von Mutter an Alex Mathes über Familie Norbert Kaufmann
„Erich ist noch immer in Walheim beschäftigt und arbeitet schon ein ½ Jahr auf derselben Stelle. Er schickt sich G.s.d. [Gott sei Dank] gut und hätten wir das nie von ihm gedacht. Der Weg ist zwar sehr weit, jeden Tag muß er 3 Stunden mit dem Rad fahren! Morgens und Abends je 1 ½ Std.
Heute war Erich mit dem Rad in Eschweiler und traf zufällig die Onkel aus Drove und Lendersdorf.
Erich hat viele Freunde gefunden und ist er hier gut gelitten.“
Brand, zusammengefasstes Gespräch von Christel Comuth (Jahrgang 1926)
Frau Comuth berichtete, dass sie und ihr jüngerer Bruder Hubert auf der Straße „Weiern“ den Erich Mathes in Arbeitskleidung getroffen und mit ihm geplaudert hätten. Dabei habe Erich versucht, den gelben Judenstern mit der Hand zu verdecken. Sie hätten gesagt, das sei doch nicht nötig, denn sie kennten sich doch schon so viele Jahre und wüssten, dass er Jude sei. Was sie aber nicht wussten war, dass Erich Schwierigkeiten bekam, wenn er mit einem „arischen Mädchen“ sprach - und sie, wenn sie mit einem Juden spricht.
Hergelsmühle, 15. Oktober 1941 Brief von Mutter an Alex Mathes über Familie Norbert Kaufmann
„Erich ist auch noch immer auf derselben Stelle schon fast 7 Monate. Er muss morgens um ¼ vor 6 aufstehen und jetzt ist es noch ganz dunkel wenn er fährt, alles per Rad.
Abends ist es auch schon dunkel wenn er nach hier kommt, aber trotzdem sieht er sehr gesund aus und ist auch viel stärker geworden, man soll es oft selbst nicht glauben, wenn man ihn sieht. Ja: „aus Kinder werden Leute“ kann man wirklich sagen.“
Hergelsmühle, 10. November 1941, Brief von Mutter an Alex Mathes über Familie Norbert Kaufmann
„Erich ist auch noch immer bei dem selben Arbeitgeber.“ (Anm. d. V.: Bis kurz vor der Deportation am 15. Juni 1942).
Lerum/Schweden, 16. Dezember 1941, Brief von Albert Roer an Alex Mathes
„Nun will ich Dir von unseren Lieben zu Hause etwas schreiben, was uns ja am meisten interessiert. Deine Eltern und Erich wohnen nicht mehr in Brand. Sie wohnen seit ungefähr August in Haaren und zwar mit vielen Leuten aus Aachen und Umgebung. Ihre Adresse ist: Haaren b. Aachen, Hergelsmühle 3. Ich glaube, sie wohnen in Baracken. Erich arbeitet noch auf seiner alten Stelle und fährt jeden Tag nach Brand.“
Hergelsmühle, 4. März 1942, Brief von Mutter an Alex Mathes über Familie Norbert Kaufmann
„Unser jüngster Sohn [Erich] ist auch Gott-sei-dank. wieder hergestellt und geht wieder arbeiten, denn das Wetter ist wieder viel besser geworden.“
Dieser Brief vom 4. März 1942 ist der letzte Brief, den Alex Mathes von seinen Eltern erhalten hat. Wahrscheinlich hat Tina Mathes auch noch weiterhin an bekannte Personen, wie Frau Kaufmann in der Schweiz, an ihren Vetter in Schweden und über das Rote Kreuz an ihren Sohn Alex geschrieben, jedoch sind weitere Briefe nicht erhalten.
Erich Mathes wurde wahrscheinlich zusammen mit seinen Eltern am 15. Juni 1942 von Aachen nach Izbica in Polen deportiert und ermordet. Seine Schwester Else Elkan, geborene Mathes, geboren am 8. März 1913 in Brand, und Elses Mann Ernst Elkan, geboren am 15. April 1908 in Setterich, wurden nach Auschwitz deportiert und ebenfalls ermordet.
Einzig sein älterer Bruder Alex, geboren am 10. Mai 1911 in Brand, gestorben am 1. August des Jahres 2006 in Philadelphia, konnte sich durch eine abenteuerliche Flucht über Belgien, Frankreich, Algerien nach Casablanca in Marokko retten. Mit dem neutralen portugiesischen Passagierdampfer „Nyassa“ floh er in letzter Minute und erreichte am 18. März 1942 endlich die Dominikanische Republik. Dort blieb er, bis ihm im Jahre 1946 die Einreise in die USA gelang.